Bedingungslos, wie die Natur
Vom Klimaschutz und einer wütenden Erde
Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nichts in den Nachrichten über den Klimawandel lese. Hitze- und Dürreperiode hier, Flutkatastrophe dort und natürlich auch die ständig zunehmende Erderwärmung, verbunden mit dem schleichenden Anstieg der Meeresspiegel. Jahrzehnte lang hat der Mensch Raubbau betrieben und die Natur bis zum heutigen Tag anhaltend ausgebeutet. Er rodet die grünen Lungen der Erde, verpestet die Luft mit Stickoxiden und entlockt ihr durch Injektion giftiger Lösungsmittel auch noch den allerletzten Gasvorrat, trotz schädlicher Auswirkungen auf das Trinkwasser. Kein Wunder also, wenn Mutter Natur da mal wütend zurückschlägt, finden Sie nicht?
Immer häufiger schwingt genau dieses zwischen den Zeilen sanft angedeutete Bild in den aktuellen Nachrichtenbeiträgen täglich mit. Die Natur als rachsüchtige herrschende Lehrerin, die mit harten Bandagen ihre Schützlinge wieder auf Linie bringt, wenn sie sich nicht so verhalten, wie es eine gestrenge Mutter von ihnen erwarten darf.
Schlechtes Gewissen oder Angst um die schwache Natur?
Die Frage, die ich mir dabei gerade stelle, ist weniger die, ob dem wirklich so ist, sondern vielmehr, was ein derartiges Bild über den auf diese Weise denkenden Menschen aussagt. Viele Erwachsene mit schlechtem Gewissen sehen sich heute scheinbar tatsächlich als die unartigen Kinder, die aufgrund ihrer Taten lieber schon mal vorsorglich den Kopf einziehen. Auf ihre Weise versuchen sie die Mama mit fast kindlichem Charme und besänftigenden Gesten vorab wieder milde zu stimmen, um einer möglichen Bestrafung zu entgehen.
Einen ähnlichen Gerechtigkeitsgedanken scheint wohl auch die jüngere Generation entwickelt zu haben, die meist freitags ihrem Ärger über das Verhalten der Vorgängergenerationen lautstark öffentlich Luft macht. Im Gegensatz zu den Eltern hat der Nachwuchs ebenfalls ein eigenes, wenn auch ganz anderes Bild der Natur für sich entwickelt. Die Natur ist hier weniger rachsüchtig, sondern extrem hilf- und schutzlos. Sie ist so schwach, dass der böse Mensch sie mühelos zerstören und nur der Gute (m/w/d) sie mittels smarter Technik und Taten vor ihrem unausweichlichen Schicksal beschützen kann.
von Dirk Stegner
„[...] Die Natur ist, was die Gerechtigkeit anbelangt, anders. Man könnte sagen, sie 'ist' einfach. Genau aus diesem Sein heraus entsteht jeden Tag eine neue Welt, die den Grundregeln, also den Gesetzen der Natur folgt. Ganz im Gegensatz zum menschlichen Verhalten. [...]“
Auszug aus: Dirk Stegner „Weisheit zwischen Wald und Wiese“
Weit von der Natur entfernt
Auch wenn ich diese beiden Bilder bewusst etwas überzeichnet habe, machen sie deutlich, wie weit sich der Mensch tatsächlich von der Natur entfernt hat. Er projiziert sein derzeitiges Verhalten einfach auf seine Umwelt. Begrenzt durch die eigenen gesellschaftlichen Erfahrungshintergründe geht er stillschweigend davon aus, dass die Natur sich wohl in gleicher Weise verhalten müsse, wie er. Dass sie einfach mal zurückschlägt, wenn man ihr wehtut. Aber das tut sie augenscheinlich nicht. Gott sei Dank, möchte ich hinzufügen!
Der Grund: Sie ist weder schwach noch rachsüchtig und auch in Sachen Gerechtigkeit legt sie definitiv keine menschlichen Maßstäbe für jeden ihrer Sprösslinge an. Wer sich die Mühe macht und regelmäßig in den Wald abtaucht, der kann mit etwas Offenheit eine ganz andere Mutter Natur kennenlernen. Eine, die tatsächlich die vielzitierte „bedingungslose Liebe“ aktiv und täglich praktiziert. Sie urteilt nicht, sondern sie geht ganz und gar in ihrer mütterlichen Rolle auf. Wer etwas dringend benötigt, wird dies erhalten, ohne Ansinnen seiner Art oder dem Grund seines Anliegens. Wer alleine nicht weiterkommt, der wird von ihr gestützt, egal ob er sich dieser Stütze tatsächlich als würdig erwiesen hat oder nicht. Wer zu expansiv gegen andere vorgeht, der wird sanft in eine alternative Richtung gelenkt, ohne dabei in seiner Entwicklung grundlegend beschnitten zu werden. Sie bestraft nicht, will aber auch niemanden retten, der dies nicht wünscht, denn sogar das entspräche nicht ihrer bedingungslosen Sicht der Dinge. Selbst wer einfach nur da sein möchte, ohne produktiv und effektiv etwas zum Gemeinwohl beizusteuern, findet in ihr seine Nische.
Besser von der Natur lernen
Vielleicht ist es endlich an der Zeit, der Natur weniger die menschlichen Züge überzustülpen zu wollen, als vielmehr ihre natürlichen in das eigene Leben zu integrierten. Genau die sprichwörtliche natürliche Bedingungslosigkeit ist es hierbei, die den meisten gedankliche Probleme bereitet. Im menschlichen Umfeld tun schließlich die Wenigsten etwas, ohne dafür eine adäquate Gegenleistung zu erwarten. Die Natur „tickt“ hier ganz anders. Sie ist sich darüber bewusst, dass in einem geschlossenen System immer alles mit allem verbunden ist. Nichts existiert unabhängig von seiner Umwelt. Kein Baum kann beispielsweise ohne Erde zwischen seinen Wurzeln sowie all die kleinen Mikroorganismen existieren, die seine Nahrung aufbereiten und sein Wachstum lebenslang fördern. Auch ohne seine Partner, die Kohlendioxid für ihn produzieren, kann er nicht atmen und keine Photosynthese betreiben. Er ist ganz einfach eingebunden in ein nährendes und schützendes System. Ein unbegrenztes – oder menschlich ausgedrückt – egoistisches Wachstum würde diese Grundstruktur und damit seine eigene Existenz gefährden. Welchen Sinn sollte es für ihn also machen, andere in seinem Umfeld bewusst auszubeuten oder zu schädigen, wenn er damit doch in Folge auch sich selbst beeinträchtigen würde.
Im Umkehrschluss macht es ebenfalls für die Natur keinen Sinn, Rachepläne zu schmieden oder nach ausgleichender Gerechtigkeit schreiende Maßnahmen zu verfolgen. Wen könnte sie damit letzten Endes wohl nur treffen, außer sich selbst? Bedingungslosigkeit ist demnach ihr oberstes Prinzip und genau diese erfahren aufgeschlossene Menschen täglich von ihr immer wieder aufs Neue. Alles, was wir dafür tun müssen ist es, uns darauf einzulassen. Doch genau das ist aufgrund unserer Prägungen und dem wissenschaftlich paradigmatisierten Sicherheitsdenken der modernen Gesellschaft manchmal gar nicht so einfach.
Sich auf Neues einlassen
Sich auf ein völlig neues Gefühl des natürlichen Integriertseins einzulassen, klingt erst einmal ziemlich pathetisch und theoretisch. Wie könnte dies denn nun ganz pragmatisch in meinem Alltag gelingen, fragen Sie sich bestimmt? Nur von bedingungsloser Liebe werden wir schließlich alle nicht satt und unsere Umweltprobleme lösen sich dadurch auch nicht von alleine!
Das ist sicherlich richtig, jedoch steckt die Antwort auf diese Frage in den häufig etwas verzerrten Blickwinkeln. Lassen Sie mich das bitte kurz an einigen Beispielen erläutern.
In Deckung gehen
Wer die Natur als mächtige rachsüchtige Gegnerin sieht, der wird sich auch zukünftig immer mehr von ihr abschotten. Er wird stetig größere Dämme bauen, Wiesen, Wälder und Gärten zum Schutz vor wilden Tieren einzäunen und immer kompliziertere Medikamente entwickeln, um auch körperlich vor jeder Form natürlicher Angreifer geschützt zu sein. Schutz ist per se sicher keine schlechte Sache, nur schneidet sich dieser Personenkreis alleine durch die ihm eigene Sichtweise immer mehr von der ihn versorgenden natürlichen Nabelschnur ab. Eine solche Denke trennt den Menschen nur weiter von der beziehungsweise seiner Natur, statt ihn ihr wieder schrittweise näher zu bringen.
Bevor neue Methoden entwickelt werden, wäre es sinnvoll, diese verschobene Perspektive zuvor wieder etwas geradezurücken. Betrachte ich beispielsweise die Natur nicht als Feind, sondern als dem Menschen (und allen anderen Spezies) wohlgesonnen, so entstünde ein völlig neues Bild, mit ebenso veränderten Lösungsansätzen. Wer die Natur als sein Wohnzimmer ansieht, der käme ganz sicher nicht auf die Idee giftige oder radioaktive Chemikalien dort zu lagern. Wer auf die Natur als seine eigene Vorratskammer blicken würde, der würde sie nicht rücksichtslos plündern, sondern sich seine Vorräte sinnvoll bis zum nächsten Frühling einteilen. Und wer sich selbst als Teil eines wesentlich umfassenderen Systems begreift, der wird sich auch nicht über dieses stellen, um es von nun an nach seinen eingeschränkten Regeln beherrschen zu wollen.
Die Mär von einer schwachen Natur
Ebenso wirft die Sichtweise, die Natur sei kränklich und schwach ein völlig verschobenes Bild auf die Realität. Könnte eine so kraftlose Natur tatsächlich Gewalten wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Tsunamis entfesseln? Könnten ein paar gefrorene Tropfen Wasser sonst mühelos einen tonnenschweren Felsblock in zwei Hälften sprengen? Und könnte ein gerodetes und sich selbst überlassenes Waldstück sich innerhalb so kurzer Zeit wieder ohne äußeres Zutun begrünen? Die Natur ist alles andere als schwach und sie braucht den Menschen nicht zwingenderweise, er sie dagegen schon.
Warum ist das so? Diejenigen, die an der Kraft der Natur zweifeln, zweifeln damit letzten Endes auch an ihrer eigenen. Sie handeln aus Angst heraus und die ist bekanntlich kein guter Ratgeber. Verstehe ich mich stattdessen als Teil einer kraftvollen Natur, stehen diese regenerativen und schöpferischen Kräfte logischerweise auch mir zur Verfügung. Ich muss also keinen Kampf mehr gegen das Leben führen, sondern kann von nun an für meine Natur und mein Wohlbefinden eintreten, und zwar schon lange, bevor die Gefahr bestünde, beides zu verlieren. Statt auf unzähligen Demos Kraft dafür zu verschwenden, andere von dem zu überzeugen, was ich selbst nicht bin, wäre es entwicklungstechnisch sicher von Vorteil, einfach das Leben zu leben, welches ich mir von Natur aus vorstelle. Das schafft innere Zufriedenheit, die dann auch auf andere abfärbt, sogar auf Erwachsene, denn selbst die können noch von ihren Kindern lernen. Und mal ehrlich: Schlaue Ratschläge haben bisher die wenigsten zum eigenen Handeln bewegt, engagierte und authentische Vorbilder hingegen schon. Vielleicht also ein Programm für die Zukunft?
Fazit
Offenheit, Bereitschaft und Perspektivenwechsel sind die Konzepte, die uns dabei helfen, dieses System der Bedingungslosigkeit wieder ein gutes Stück weit in unseren Alltag einfließen zu lassen. Auf diese Weise können wir von dem lernen und profitieren, was auch die Natur uns jeden Tag aufs Neue vorlebt. Indem wir es ihr gleichtun, sie wieder als Lehrmeisterin akzeptieren, ausgediente Muster über Bord werfen und uns wieder auf uns selbst fokussieren, statt die Fehler der anderen als Entschuldigung für die eigene Tatenlosigkeit heranzuziehen, wird auch das Leben an sich wieder bedingungsloser. Bedingungslos eben, wie die Natur.