Angst vor Veränderung
Was kommt da auf mich zu?
Das mit den Veränderungen ist schon so eine Sache. Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht, aber ich persönlich tue mir da manchmal immer noch schwer. Insbesondere dann, wenn es um solche geht, die mehr als nur einen Teil meines Lebens betreffen, wie ein Umzug zum Beispiel. Ich weiß genau, dass von einem Tag auf den anderen nichts mehr so sein wird wie zuvor. Eine unbekannte Stadt, ein völlig neues berufliches Umfeld und damit verbunden auch ein komplett veränderter Tagesablauf. Gewohntes muss ich für den Schritt ins neue Leben aufgeben, Familie, Freunde, Nachbarn und sogar meine Lieblingsorte in der Natur zurücklassen. Ganz plötzlich fühlt sich die vorher so begeistert getroffene Entscheidung irgendwie gar nicht mehr so gut an und ich würde am liebsten vom Widerrufsrecht Gebrauch machen, wenn es denn so etwas gäbe. Was ist das nur mit diesen Veränderungen und meiner Gewohnheit?
Selbstaufgabe?
Auf den ersten Blick ist die vertraute Routine vielleicht doch gar keine so schlechte Sache. Sie gibt mir irgendwie das Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit. Selbst wenn sie keine „gute“ ist, halte ich daher gerne öfters als wünschenswert an ihr fest. Lieber eine Situation, die vielleicht nicht ganz optimal ist, als eine völlig unbekannte. Zu diesem Ergebnis käme jedenfalls mein Verstand. Bekannte Sachverhalte gelten dort als erprobt und erfordern keinen zusätzlichen Überprüfungsaufwand. Die Gewohnheit ist so etwas wie ein Teil meiner selbstgeschaffenen „Pseudoidentät“ und alles, was sie verändern will, kann von ihm leicht als unerwünscht oder gar feindlich eingestuft werden. Hinzu kommt oft, bei mir zumindest, auch das schlimme Gefühl, liebgewonnenes aufgeben zu müssen. Bevor ich irgendwo neu durchstarten kann, fühlt es sich so an, als müsste ich vorher zwangsläufig auf Altvertrautes verzichten und würde damit etwas zurücklassen oder „verlieren“. Aber ist dem auch auf den zweiten Blick tatsächlich so?
Doch kein Verlust
Der Gang in den Wald hilft mir wie üblich dabei, hier etwas Klarheit für mich zu schaffen. Nachdem sich mein Geist beruhigt hat, kommen mir Bilder meines alten Berufes in den Sinn. Wenn ich auf einem Computer ein Software-Update installiere, wird in aller Regel die Funktionalität des Programms um zusätzliche Features erweitert. Gewohnte Funktionen stehen nach wie vor zur Verfügung, doch sind sie nun zum Beispiel einfacher bedienbar als vorher und werden durch neue optimierte unterstützt. Schnell wird mir klar, dass Veränderung per se nicht zwangsweise zu einem Verlust führen muss. Ich begreife, dass das Neue das Alte in diesem Zusammenhang nicht ersetzen oder verdrängen wird. Es ergänzt mein „altes Leben“ und macht es dadurch vollständiger, als es vorher war. Nichts wird gewaltsam überschrieben, sondern vielmehr sanft erweitert, und zwar in all den Bereichen, die erweiterungsbedürftig waren. Alle Kapitel, die ich ändern oder neu schreiben möchte, werden durch eine neue Version meines Selbst verbessert. Ich verliere nichts. Im Gegenteil, ich gewinne durch die ehrliche und authentische Begegnung mit dem sich ständig weiter entwickelnden Ich in jeder Sekunde an Mut und Klarheit hinzu.
Das Unbekannte
Von dem vor meinen Augen ablaufenden Perspektivenwechsel beeindruckt, schwindet das ursprüngliche Unbehagen bereits ein bisschen. Aber ein Restzweifel bleibt immer noch spürbar. Er versetzt meinen Verstand wieder ein gutes Stück weit in kreisende Bewegungen. „Was wird da bloß auf mich zukommen?“, frage ich mich innerlich.
Ich! Ich werde da auf mich zukommen. Egal, wie auch immer die Umgebungsbedingungen sein werden, ausschlaggebend ist doch, wie ich damit umgehe. Wie ich die Dinge aus meinem Blickwinkel sehe und, entsprechend meiner Wertmaßstäbe handle. In diesem Punkt habe ich die letzten Jahre wirklich jede Menge Erfahrungen sammeln können, die ich nun ganz praktisch nutzen kann. Entgegen meiner ursprünglichen Sorge lasse ich nichts von dem zurück, was ich dort tatsächlich brauchen könnte. Somit bin ich auch nicht auf mich alleine gestellt, sondern ich kann auf all die erworbenen Fähigkeiten und mentalen Werkzeuge zurückgreifen, die schon vorher in der gewohnten Umgebung gut funktioniert haben. Mein eigenes „System“ hat ja auch in der Fremde Bestand, denn ich bleibe ja zumindest eine Zeit lang der Mensch, der ich am Heimatort war. Genau in dieser Selbstwahrnehmung steckt auch wiederum ein kleines Stück Gewohnheit, das ich in mir trage. Es gibt mir für die Übergangszeit genau die Sicherheit, die ich jetzt brauche und die mir die nötige Kraft für die nächsten Schritte verleiht. Mann, was für ein Ausblick!
von Dirk Stegner
„[...] Die Gewohnheiten sind also aus vielen Gründen meist so tief in unserer Persönlichkeit verankert, dass es schon eines starken Impulses bedarf, der uns dazu veranlassen könnte, sie zu überdenken oder gar zu ändern. In aller Regel sind dies dann kleinere beziehungsweise größere „Lebenskrisen“ mentaler oder gesundheitlicher Art, die der eigentliche Auslöser für den Veränderungsprozess sind und den Stein ins Rollen bringen. [...]“
Auszug aus: Dirk Stegner „Natur-Coaching“
Nach-Corona-Zeiten
Dieses kleine Beispiel veranschaulicht schon recht deutlich, was den meisten Menschen wohl in Kürze bevorsteht. Auch wenn in naher Zukunft kein Umzug geplant ist, so wird sicher das private oder berufliche Umfeld in der Nach-Corona-Zeit in vielerlei Hinsicht deutlich anders aussehen, und zwar für jeden von uns. Die Entwicklungen des letzten Jahres deuten die anstehenden Veränderungen jetzt in vielen Bereichen mehr oder weniger dezent bereits an. Und das ist sogar fühlbar! Der eine oder andere spürt jenen Wandel auf intuitiver Ebene schon vorab in Form von Unruhe, Gereiztheit oder Anspannung. Höchste Zeit, sich auf die eigenen Ziele und Werte zu konzentrieren, und sich nicht von dem ängstigen zu lassen, was pessimistische Spatzen hier und da von den Dächern pfeifen. Jeder Neuanfang trägt immer auch die Chance auf einen positiven Wandel in sich. Auf eine persönliche Weiterentwicklung, die nicht zwangsläufig mit Entbehrung und Verlust verbunden sein muss.
Klimawandel & Co.
Werfen wir beispielsweise den Blick in Richtung Klimawandel, der derzeit von den meisten Experten hiobsbotschaftsartig mittels Dauerschleife präsent gemacht wird. Beängstigend, finden Sie nicht auch? Ich meine damit in allererster Linie die Art und Weise, wie wir als aufgeklärte Menschheit solche Herausforderungen angehen. Keine Frage, es gibt hier nichts zu beschönigen oder gar kleinzureden. Der Punkt ist vielmehr der, dass unsere zukünftige Lebensweise sich verändern muss und wird. Genau dies macht vielen Angst und veranlasst speziell jüngere Menschen immer häufiger zu Protestmärschen, die teils mit heftigen Schuldzuweisungen an die ältere Generation verbunden sind. Tenor: „Ihr raubt mir meine Zukunft, Ihr seid schuld!“. Ob moderne E-Mobilität, Photovoltaik- und Windkraft-Hightech alleine diese Situation zu lösen vermögen, darf wohl genauso bezweifelt werden, wie die ausschließliche Schuldhaftigkeit der Vorgängergenerationen. Die Lösung der kommenden Herausforderungen trägt jeder Mensch in sich und gleichzeitig alle zusammen. Es gibt nicht die Verantwortlichen und deren Opfer. Jeder von uns kann dieses neue System ab sofort mitgestalten. Die Frage ist also, wie stelle ich mir meine Zukunft vor? Wie will ich in fünf, zehn oder zwanzig Jahren leben? Was wird da auf mich zukommen?
Sie ahnen es bereits. Auch hier lautet die Antwort natürlich: Ich. In erster Linie komme ich auf mich zu. Es gibt keinen allgemein Verantwortlichen, der die Welt für mich so einrichten wird, dass sie mir gefällt und ich gerne in ihr lebe. Alle Menschen sind Teil eines globalen Veränderungsprozesses, den jeder für sich und gleichzeitig wir alle gemeinsam durchleben. Wenn ich also zukünftig auf Gewohntes verzichte, tue ich das im Idealfall, weil ich für mich Lösungen entdeckt habe, die fortschrittlicher sind und meiner aktuellen Situation besser Rechnung tragen, als die Alten. Loslassen ist auch in diesem Veränderungsprozess kein tatsächlicher Verlust, sondern lediglich der Auftakt meiner persönlichen Weiterentwicklung.
Ein Beispiel
Statt krampfhaft an der Aufrechterhaltung eines immer komplexeren Verkehrssystems mittels E-Mobilität festzuhalten, könnte der Gedanke an die Renaissance dezentraler ländlicher Strukturen Mensch, Maschine und Umwelt in jeder Hinsicht entlasten. Aufblühende Dorfgemeinschaften, tatsächlich wieder gelebte soziale Integration (v.a. von Kindern und alten Menschen)! Digitalisierung und echte Naturverbundenheit sind nicht mehr länger widersprüchliche und unvereinbare Enden der Skala, sondern ermöglichen und ergänzen einander sinnvoll. Wer kürzere Wege hat, naturverbundener und gesellschaftlich integrierter lebt, der benötigt auch weniger Fortbewegungsmittel beziehungsweise Energie. Wer Waren und vor allem frische Produkte vor Ort einkaufen kann, der weiß nicht nur was er ißt, sondern verursacht auch weniger Verpackungsmüll. Seine Wahl und sein Vertrauen in die regionalen Betriebe entscheidet dabei mit über das tatsächliche Produktangebot vor Ort. Wieder mehr Handwerk statt der nur auf den ersten Blick billigen Massenproduktion, deren gesundheitliche, soziale und gesellschaftliche Kosten wir uns, genauer betrachtet, auf Dauer wohl paradoxerweise zukünftig nicht mehr leisten können oder wollen.
Durch dieses kleine Beispiel wird schnell ersichtlich, dass es nicht die eine Lösung geben kann. Dass nicht ein Mensch oder eine bestimmte Gruppe für das Schicksal vieler verantwortlich zeichnet, sondern jeder seinen Beitrag dazu leisten darf und kann. Erst durch alle zusammen entsteht so etwas wie eine belastbare Gemeinschaftsstruktur, wie wir sie zum Beispiel in der Fauna und Flora naturbelassener Wäldern finden können. Machen wir uns wieder deutlich bewusst, dass auch wir als Menschen Teil dieses wunderbaren Systems sein können, wenn wir uns den Zugang dazu nicht selbst verwehren. In dieser Teilhabe liegt gleichzeitig auch der Schlüssel zu echtem Rückhalt und das Geschenk eines wahren Selbstvertrauens.
In diesem Sinne also: Keine Angst vor Veränderungen und einen guten Neustart, wo immer auch nötig.