Den Menschen wieder sehen
Vorurteile, Inseldenken und Gruppenzwang loswerden
Heiße Debatten, emotional aufgeladene Dialoge und eine Menge pauschalisierter Vorwürfe in jedwede Richtung begegnen mir diese Tage fast an jeder Ecke. Und auch wenn ich mich an manchem Schlagabtausch gerne beteiligen würde, lasse ich es lieber sein. Nicht weil ich Angst habe und ebenfalls nicht, weil ich meine, durch vornehme Zurückhaltung zu einem besseren Menschen werden zu können. Ich sehe vielmehr, dass zahlreiche dieser „Diskussionen“ häufig leider tief unter der Gürtellinie enden, verletzen und die teilnehmenden Protagonisten nur noch weiter auseinanderbringen, statt nach dem reinigenden Wortgewitter wieder zu einem gemeinsamen „Leben und Leben lassen“ zurückzufinden. Die Welt scheint sich zunehmend in zwei Flügel aufzuspalten. Zum einen in die Gruppe derer, die meine Auffassung teilen. Und dann gibt es noch die anderen. Die, die grundsätzlich gefährlich sind, weil sie unterschiedlicher Meinung sind. Es zählt dabei immer weniger, wer, wie und was ich als Mensch bin.
AB IN DIE SCHUBLADE.
Gleichzeitig wächst zudem der gesellschaftliche Druck, sich für das eine oder andere Lager entschließen zu müssen, und genau das fällt mir persönlich zunehmend schwerer. Es ist nicht, dass ich mich nicht entscheiden könnte. Mein Problem ist, dass ich als Mensch nicht in diese Schubladen passe, die mir da angeboten werden. Wenn ich ehrlich bin, will ich das auch gar nicht, denn die Fächer sind meist sehr eng, scharfkantig und dazu noch in schlichtem Schwarz oder Weiß gehalten. Ein Beispiel ist die jüngst aufgrund eines aktuellen ARD-Beitrags wieder neu entbrannte Diskussion über Alternativmedizin versus wissenschaftlich evidente Schulmedizin. Arzt gegen Heilpraktiker. Entweder, oder. Während die eine Gruppe auch für noch unbewiesene, aber in vielen Einzelfällen zielführende Ansätze offen ist, sieht das „gegnerische“ Lager darin grundsätzlich eine Gefahr für die öffentliche Moral und Gesundheit. Das Schubladendenken mündet unweigerlich in einer Gut-oder-böse-Sicht auf beiden Seiten. Gedankliche Trennung und sich weiter verhärtende Fronten, statt eines gemeinsamen Miteinanders sind die traurigen Folgen.
BIST DU NICHT FÜR UNS, ...
Man fühlt sich manchmal fast schon dazu genötigt, sich dem einen oder anderen Lager anschließen zu müssen. Versuche ich, mein Verhalten zu ändern, und kuriere meine kleineren Wehwehchen mit homöopathischen Globuli, höre ich aus der Fraktion der Schulmedizinfans gleich den Vorwurf, was für ein „Alternativer“ und „Traumtänzer“ ich doch sei. Schließlich gäbe es ja keine wissenschaftlich evidenten Beweise für deren Wirkung. Ja, gut, aber bei mir, wie bei vielen anderen im Übrigen auch, funktionieren die kleinen Kügelchen und mehr erwarte ich von einer „Medizin“ in dieser Situation tatsächlich nicht. Gleichzeitig verurteilt mich die Gruppe der „Hard-Core-Homöopathiefans“, wenn ich beim Zahnarztbesuch nicht auf eine amtlich schulmedizinisch wirksame Spritze gegen die bei der Behandlung auftretenden Schmerzen verzichte. Aber warum sollte ich auch? In diesem Zustand ist sie für mich persönlich eben das Mittel der Wahl, das mir bestimmte Leiden erspart.
Im Laufe meines Lebens habe ich viele Schulmediziner kennengelernt, die die Alternativmedizin in einigen Bereichen auf sehr sinnvolle Weise in ihre tägliche Arbeit zu meinem Wohl als Patient integriert haben. Ich habe ebenso zahlreiche Heilpraktiker getroffen, die erfolgreich und fast Hand in Hand mit Ärzten zusammenarbeiten, um beispielsweise unnötige Nebenwirkungen von Medikamenten in bestimmten Fällen zu vermeiden. Es gibt also auch jetzt bereits ein Miteinander. Eine Kooperation, die auf persönlicher Ebene geprägt ist von gegenseitigem Respekt, kollegialem Austausch und fachlicher Neugier. Ein gemeinsamer Lernprozess, der zeitweise sicherlich die beteiligten beider Lager ein Stück weit aus ihrer Komfortzone zwingt, der sich aber vielfach lohnt. Vor allem dann, wenn man sich das eigentlich übereinstimmende Ziel aller Parteien wieder vergegenwärtigt, nämlich die Gesundheit und das Wohl des Patienten. Dieses lässt sich sicher gemeinschaftlich leichter erreichen als alleine.
von Dirk Stegner
„Je mehr sich der Mensch von der Natur als getrennt wahrnimmt, desto weiter verlegt er, bildlich gesprochen, seinen Hauptwohnsitz in genau so eine 'virtuelle Glaskuppel'. Er distanziert sich zusehends von den Mitmenschen und übernimmt zunehmend die „Gesichtszüge“ jener technischen Spielzeuge, die er so sehr schätzt.“
Auszug aus: Dirk Stegner. „Trennungsgedanken.“
EINSAM AUF MEINER INSEL
Die Abspaltung von „den dummen anderen“ bringt ein weiteres Problem mit sich. Der Mensch als Individuum gerät aus dem Fokus und damit auch die Menschlichkeit. Die einzelne Person, mit all ihren interessanten Wesenszügen und manchmal fast schon liebevolle Marotten, verschwindet in der Masse derer, die ich vielleicht unabsichtlich in eine Schublade gepackt und den Schlüssel dazu weggeworfen habe. Ich isoliere mich auf diese Weise zunehmend selbst und ziehe auf meine einsame Insel, auf der die Welt scheinbar noch in Ordnung ist. Eine Zeit lang mag diese Strategie, der Ruhe und persönlichen Neuorientierung wegen, sicher sinnvoll sein. Auf Dauer ist sie definitiv keine Lösung. Durch den Rückzug beraube ich mich grundsätzlich all der Möglichkeiten, die das Leben als solches mir bietet. Irgendwann kann ich dort nichts Neues mehr erfahren. Ich entwickle mich nicht weiter, denn für Lern- und Lebenserfahrungen brauche ich auch anderes Leben in meinem Umfeld. Und sei es nur deshalb, um festzustellen, dass ich etwas davon doch nicht mag.
Pauschalurteile und Meinungen aus zweiter Hand heizen diese Form der Lebenskultur nur weiter sinnlos an. Es entsteht eine regelrechte „Insellandschaft“ mit vielen privaten und unzugänglichen Eilanden. Aus der Ferne kann ich irgendwann nur noch die Inseln wahrnehmen, aber nicht mehr den einzelnen Menschen, der auf ihr lebt. Will heißen: Statt das Individuum mit all seinen persönlichen Stärken und Schwächen an- und wahrzunehmen, entscheide ich hinsichtlich meiner weiteren Vorgehensweise nur noch anhand seiner „Inselzugehörigkeit“ und nicht aufgrund des tatsächlich gewonnenen Eindrucks seiner Person. Mein Gegenüber ist plötzlich nicht mehr Hans Müller, sondern nur noch der „Alternativfuzzi“, Impfgegner oder gar „Corona-Leugner“. Die ureigenen Beweggründe, Lebensumstände und -geschichte des Menschen sind sprichwörtlich in diesem Moment der „Inselverbannung“ mit einem Schlag ins Wasser gefallen.
ZURÜCK AUFS FESTLAND
Die Frage ist, ob ich dieses Schubladenspiel im Alltag überhaupt weiter mitspielen möchte oder vielleicht sogar muss? Kann die moderne digitale Gesellschaft nur noch Schwarz und Weiß? Ich glaube nicht! Die vielen Inseln, die sich in den letzten Jahren herausgebildet haben, lassen sich auch ganz einfach in einen Teil des Festlandes zurückverwandeln. Alles, was dazu nötig ist, ist der Versuch im Alltag wieder häufiger den Menschen hinter der „Schubladenfassade“ zu sehen. Sich nicht von kollektiven Denkmustern ablenken zu lassen, sondern selbst aktiv zu werden und sich ein Bild von seinem Gegenüber zu machen. Und zwar bitte ein eigenes! Mit einem freundlichen Lächeln und einem kleinen Vorschuss an Vertrauen, nimmt die Sache schnell Fahrt auf. Angst, Hass, Missmut und Ablehnung verschwinden, ein offener Austausch entsteht. Auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind, so bleiben zumindest der gegenseitige Respekt und die Möglichkeit sich jederzeit auf Augenhöhe zu begegnen. Die Insel ist Geschichte, denn vielleicht erfahre ich ganz nebenbei etwas mehr über Hans Müller und kann seine Beweggründe wenigstens ein kleines bisschen nachvollziehen, selbst dann, wenn sie nicht meiner Überzeugung entsprechen. Genau in diesem aktiven Austausch auf persönlicher Ebene liegt kein Risiko, sondern eine Chance. Meine Chance an dieser Begegnung zu wachsen und vielleicht sogar Neues dank ihr zu lernen und mich als Einzelwesen weiterzuentwickeln. Wer will schon für immer da stehen bleiben, wo er sich gerade befindet?
Sich tatsächlich wieder die Mühe zu machen, den einzelnen Menschen zu sehen, also nicht den „geldgeilen Geschäftemacher“, den „dumm herumnervenden Verschwörungstheoretiker“ oder die „naiven Weltverbesserer“, ist der erste Schritt, das eigene Inseldasein bewusst zu beenden. Wer auf diese Weise die Koffer packt und sich über das trennende Wasser hinweg auf gemeinsames Territorium begibt, wird erstaunt sein, wie menschlich es dort zugeht. Wie angenehm das Leben plötzlich doch sein kann, dank der neu gewonnenen mentalen „Bewegungsfreiheit“. Und all das nur, weil ich ihn jetzt wieder sehen kann. Den Menschen, da hinter der Fassade.