Unsocial Media
Abseits der Herde: Ein kleiner Selbstversuch
Fast ist es schon so etwas wie ein kleines Ritual geworden, mit dem ich meinen Tag beginne. Ähnlich wie die kurze morgendliche Meditation oder das Gassigehen mit den Hunden. Ich verpasse der Maus einen Stupser und wecke damit meinen Rechner aus seinem leichten Standby-Schlaf. Ein Klick und die Facebookseite ist geöffnet. Wie ferngesteuert scrolle ich durch die Timeline.
Mein Gott, was da schon wieder alles los ist. Einige Bekannte haben ihre Ängste oder ihren Frust an politischen Berichten über die Corona-Krise abgearbeitet. Ich kann sie zwar gut verstehen, aber eigentlich wollte ich mich darüber ja gar nicht mehr aufregen. Perspektivenwechsel! „Okay, mal sehen, da muss es doch auch Positives geben.“ In der VW-Käfer-Fangruppe ist es hingegen gewohnt konstruktiv. Losgelöst von politischen Querelen wird hier kreativ, wie eh und je, nach technischen Lösungen für diverse Probleme gefahndet. Auch die Verwandtschaft aus Norwegen hat idyllische Winterbilder gepostet. Meine Gedanken wandern sehnsüchtig in den hohen Norden, während ich unaufhörlich mit dem Finger auf dem Mausrücken immer weiter durch die einzelnen Beiträge gleite. Ach schau mal hier! Ein verlockendes Werbeangebot für ein neuartiges Tablet im EBook-Style. Schreiben, wie auf Papier. Klingt interessant, gleich mal checken, ob das nicht auch was für mich wäre.
KEIN KOMPLETTER AUSSTIEG
Ein kurzer Blick auf die Uhr reißt mich dann jäh aus meinem allmorgendlichen Informationsgelage. „Mist, schon so spät!“ Ich stelle fest, dass ich auf diese Weise bereits mehr als eine Dreiviertelstunde Zeit verbraten habe. Mit welchem Ergebnis eigentlich? Ich blicke zu Kerstins Schreibtisch und sehe, dass auch sie wie gebannt die Beiträge ihres Facebook-Accounts sichtet und kommentiert. Schon Wahnsinn, wie viel Zeit ich bereits pro Tag mit dieser Beschäftigung verbringe. Und ich bin sicherlich noch einer derjenigen, die Facebook in recht geringem Umfang nutzen, habe mein Handy ja sogut wie nie dabei. Kurz nachgerechnet ergibt sich knapp über eine Stunde täglich, die ich auf diese Weise verbringe. Was wäre, wenn ich diese Zeit wieder für andere Dinge nutzen würde? Bin ich vielleicht sogar weniger genervt, wenn ich nicht mehrmals täglich die Meinungen und Befindlichkeiten anderer Menschen ungefragt aber freiwillig abbekomme? Kommt auf einen Versuch an. Ich will nicht ganz aussteigen, denn ich möchte zu einigen fernen Freunden und Familienmitgliedern den Kontakt nicht gänzlich einstellen. Aber einmal pro Woche sollte zu diesem Zweck allemal ausreichen. Nachdem ich ihr von meinem Plan erzählt habe, macht auch Kerstin spontan mit und wir beschließen beide, unser „Ritual“ mal eine Weile zu verändern und uns stattdessen auf das reale Leben zu konzentrieren. Fühlt sich noch etwas komisch an, aber doch auch irgendwie gut.
VERÄNDERUNGEN TRETEN EIN
Bereits nach einer Woche stellen wir beide positive Veränderungen an uns selbst fest. Durch den Wegfall des hochdosierten Informations- und Meinungsbombardements fühlen wir uns innerlich ruhiger. Auch der anfängliche Entzug und die Furcht, irgendwas zu verpassen oder von irgendwem nicht erreicht werden zu können war relativ schnell verflogen. Stattdessen fühle ich mich konzentrierter, bin mehr bei mir und meinen eigenen Angelegenheiten. Die Gedanken sind klarer und ich bin erstaunt, was ich aktiv nun mit der zusätzlichen täglichen Stunde, alles anfangen kann, die ich jetzt wieder für mich habe. Mit etwas Distanz scheint es mir fast unverständlich, warum ich vorher diesen inneren Drang verspürte, in meinem „Facebook“ zu blättern. Was macht dieses Medium denn so verlockend, ähnlich dem Zuckernachschub des guten Stücks Schokolade auf meinem Schreibtisch? Sicher kann jeder diese Frage nur für sich beantworten. Bei mir ist es tatsächlich die Furcht etwas verpassen zu können. Irgendetwas ohne soziale Medien nicht zu erfahren, das privat oder beruflich ein echter Vorteil für mich wäre. Und natürlich auch ein bisschen Klatsch und Tratsch, nur digital eben.
FACEBOOK VERMISST UNS
Nach knapp einer Woche scheint uns Facebook zu vermissen. Sie senden uns beispielsweise E-Mails, dass „Freunde“ etwas gepostet hätten. Manchmal kommt auch eine „Freundschaftsanfrage“, die sich bei genauem Hinsehen lediglich als Liste möglicher Bekannter entpuppt. Scheinbar ist das Netz süchtiger nach uns, als wir nach ihm. Mittlerweile kann ich dem Drang des schnellen Klicks gelassen widerstehen. Wer mich gerne erreichen möchte, der wird dies dank meiner Website sicher auch ohne das soziale Medium oder telefonisch schaffen. Aber ein bisschen genauer interessiert mich das Phänomen jetzt schon. Wie kommt dieser „Suchteffekt“ zustande? Nach etwas Recherche werde ich schnell fündig. Künstliche Intelligenz ist hier das Zauberwort. Einfach ausgedrückt, versorgen mich bestimmte Algorithmen genau mit den Informationen, die ich besonders interessant finde. Bildlich gesprochen lernt das System durch mein Verhalten, welche „Schokoladensorte“ mir am besten schmeckt und versorgt mich fortan auch ständig gezielt damit. Auswertungen meines Surfverhaltens, Mauszeigerbewegungen sowie Verweil- und Lesedauer der Posts bestimmen das künftige Süßigkeitenangebot. Je länger ich im System beschäftigt bin und je besser mich dieses dadurch kennenlernt, desto umfänglicher und gezielter kann es mich im Anschluss mit bezahlter Werbung versorgen. Klar, scheinbar gilt auch hier die alte Weisheit „Zahlst Du nicht für ein Produkt, bist Du das Produkt.“
GEFANGEN IN DER ENDLOSSCHLEIFE
Als Mensch und Natur-Coach beunruhigen mich zwei Dinge: Neben der Gefahr von einem solchen „Belohnungssystem“ endlosschleifenartig ständig beschäftigt zu werden, entsteht insbesondere bei jungen Menschen und exzessivem Konsum die Gefahr, geistig in einer künstlichen Informationsblase „hängenzubleiben“. Da das System darauf ausgerichtet ist, hauptsächlich die Informationen zu liefern, die die jeweilige Person als interessant ansieht, besteht die Gefahr, dass so ein völlig verzerrtes Bild der Realität entsteht. Auch wenn meine Freundschaftsliste vielleicht sehr heterogen zusammengesetzt ist, dringen irgendwann nur noch die Informationen zu mir durch, die auch meinem „künstlichintelligent ermittelten“ Gusto entsprechen. Kritische oder blickwinkelveränderte Beiträge fallen schlicht aus meiner Timeline. Ein konstruktiver Austausch, wie er in der lebendigen Realität stattfinden würde, bleibt meist aus. Ganz zu schweigen davon, dass Kommentare bestimmter Menschen mich ungefragt im realen Leben nie erreichen würden.
von Dirk Stegner
„[...] Exakt. Die Energie folgt immer der Aufmerksamkeit. Nur was, wenn diese zu einem großen Teil nicht mehr Dir und Deiner Umwelt gilt, sondern vielmehr irgendwelchen Apps und deren Meldungen auf Deinem Handy? [...]“
Auszug aus: Dirk Stegner. „Trennungsgedanken.“
Auf diese Weise, haben sich die sozialen Netzwerke mittlerweile leider weit von dem entfernt, wofür sie einst geschaffen wurden. Statt Menschen zu vernetzen und einen Austausch auf persönlicher Ebene zu unterstützen, bringen sie sie immer weiter auseinander. Komfortable digitale Meinungsblasen verhindern immer öfter den zukünftigen Kontakt im realen Leben. Es entsteht ein zunehmend unnatürlich aufgebautes Konstrukt, welches aber speziell von der jüngeren Klientel - mangels alternativer Erfahrungen – als real eingestuft wird.
WIEDER IM URSPRÜNGLICHEN SINNE
Mein Fazit: Auch wenn ich mich persönlich sicherlich weit ab von dem befand, was die Fachwelt als süchtigen Gebrauch sozialer Medien bezeichnen würde, war ich erstaunt, wie hartnäckig oft das Zucken im rechten Zeigefinger war. Das Resultat der selbst auferlegten Beschränkung entschädigte mich allerdings für die Bemühungen in vielfacher Weise. Facebook ist für mich, dank wohl dosiertem Einsatz wieder genau das geworden, was es meiner Meinung nach auch ursprünglich sein sollte: ein sinnvolles Hilfsmittel und kein Beschäftigungsprogramm. Media ja, sozial nein, so könnte man das Ergebnis meines Selbstversuchs vielleicht noch besser umschreiben. Gerade der Verzicht ließ mich wieder öfter zum Telefonhörer greifen und hätte ohne Corona-Lockdown wohl sicherlich dazu geführt, dass man reale Freunde in der gewonnenen Zeit häufiger besucht oder sich getroffen hätte. Zur Nachahmung also wärmstens empfohlen.