Alles Coaching oder was?
Augen auf bei der Wahl des passenden Beraters
Coaching ist nicht gleich Coaching. Und manchmal ist Coaching auch gar kein Coaching, wie im jüngsten Fall einer Bekannten, die sich beim Start in die Selbständigkeit richtig beraten lassen wollte. Wie der Zufall es wollte, berichtete sie in einem beiläufigen Gespräch stolz über die Empfehlungen ihres Business-Coaches, die bei mir und meiner besseren Hälfte - beide seit über 20 Jahren selbständig - eher Stirnrunzeln als Begeisterung auslösten. Vieles von dem, was sie berichtete, war nicht nur aus fachlicher Sicht im Hinblick auf die Größe des Unternehmens verwunderlich, sondern auch die Tatsache selbst, dass dieses Coaching wohl eher als Beratung zu bezeichnen wäre. Aber gut.
Hipp, hipp, naja ...
Derzeit scheint diese Form des Coachings sehr angesagt zu sein und viele Berufsanfänger verfallen immer häufiger dem hippen Charme der meist spontanen Anrufer. Auch bei mir hat sich neulich wieder einer dieser übermotivierten „Kollegen“ gemeldet. Ohne direkten Einblick in mein Unternehmen wusste er sofort, dass sich mein Umsatz mit seinen Tipps in kürzester Zeit locker verdoppeln ließe. Außerdem könne meine Website dank seines Coachings in Kombination mit einem ordentlichen SEO-Paket zur Suchmaschinenoptimierung locker tausend neue Kunden im Monat generieren, schwärmt er. Toll, denke ich, der kennt mich überhaupt nicht, hat aber ohne Vorgespräch, Fakten oder Zahlen schon eine komplette Analyse parat. Genialer Typ!
Definitiv kein Selbstwertproblem
Verblüfft vom überschwänglichen Selbstbewusstsein des schätzungsweise 25-jährigen Kollegen fängt sich mein Verstand aber schnell wieder und ich frage, wer denn die 1000 Kunden im Monat überhaupt bedienen soll, schließlich bin ich derzeit als „One-Man-Show“ unterwegs. Die Anzahl der Kunden ließe sich ja beliebig skalieren. Das hinge auch von meinem Werbebudget ab. Abgesehen davon könnte man das persönliche Coaching heute durch Online-Videos automatisieren. Kein Einzelcoaching mehr, stattdessen Paid-Videos in Kombination mit Gruppenveranstaltungen für bis zu 200 Personen. So sieht Coaching heute aus!
Immer noch erstaunt über diese Form des selbstbewussten Auftretens frage ich neugierig nach. „Sie klingen noch recht jung. Welche Ausbildung und Berufserfahrung haben Sie denn?“, will ich wissen. Er habe eine einjährige Online-Ausbildung absolviert und sei nun seit einem halben Jahr mit seinen gleichaltrigen Geschäftspartnern sehr erfolgreich als Business-Coach unterwegs. Auf seiner Website und bei Google kann ich die Bewertungen hunderter zufriedener Kunden recherchieren, die alle seinem System vertrauen und ohne großen Aufwand mehrere zehntausend Euro im Monat mit ihren Online-Videos machen.
von Dirk Stegner
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Coaching- und Beratung in Gründungs-, Krisen- oder Wachstumsphasen
Der Mensch im Mittelpunkt
Als ich ihn nach seinen Preisvorstellungen frage, erklärt er mir stolz, dass ein Einsatz von 1 bis 2 Tausend Euro im Monat sicher auch mein Geschäft beleben würde. Okay, denke ich mir, wenn nicht meins, dann auf jeden Fall seins und verabschiede mich im Geiste schon mit einem höflichen „Nein Danke“. Dann setzt der junge Freund noch einen drauf: Für nur ca. 1.500 Euro mehr im Monat hätte er eine auf die Produktion von Kurzvideos - so genannten Reels - spezialisierte Agentur an der Hand, die 3x im Monat „pushende“ Videosequenzen für mein Business produzieren könnte. Meine Bedenken, dass ich selbst oft gar nicht die Zeit hätte, mir in so kurzen Abständen sinnvolle Inhalte zu überlegen, wischt er mit einem Satz beiseite: „Das machen die selbst, die wissen, was in den Social Media Kanälen gut ankommt.“ Ich glaube, ich habe genug gehört, verabschiede mich und lege auf.
Unternehmung ohne Seele
Ohne die Kompetenz des jungen „Kollegen“ bewerten zu wollen, wird diese Denk- und Vorgehensweise leider immer mehr zum Trend: Unternehmungen ohne Seele! Marketing als bloße technische Spielerei und Manipulation über hippes Influencing, gepaart mit einer Prise überheblicher und verunsichernder Arroganz. Berufsehre, Qualitätsanspruch, Loyalität und Verantwortung gegenüber dem Kunden leider Fehlanzeige!
Auch wenn sicher nicht alle Angebote so extrem in diese Richtung tendieren, fällt mir doch auf, dass der Mensch in den Beratungen oder Coachings immer öfter gar keine Rolle mehr spielt. Es geht nicht mehr um die eigentliche Aufgabe, die einen als Gründer oder Unternehmer antreibt, sondern nur noch darum, den kürzesten und direktesten Weg zu finden, um möglichst schnell an das Geld anderer Leute zu kommen. Dazu werden meist starre Marketing- und Kommunikationsstrukturen eingesetzt, die mit den eigentlichen Zielen der Beratenen oft nicht mehr viel zu tun haben.
Manipulatives „Storrytelling“
Hinzu kommt, dass persönliche Stärken und Schwächen keine Rolle mehr spielen. Stattdessen wird dazu angehalten, ein bestimmtes Bild von sich und seinem Unternehmen in der Öffentlichkeit zu kreieren. Geschickt eingesetztes manipulatives „Storytelling“ ersetzt den aus Sicht dieser Coaches viel zu langweiligen eigenen Auftritt, denn damit fällt man in der Masse der neuen „Marktschreiergeneration“ kaum noch auf. Aber ist es nicht so, dass gerade die, die es wagen, „leise“ zu sein, auffallen? Diejenigen, die nicht schweigen, weil sie nichts zu sagen haben, sondern die sich in diesem Moment überlegen, ob sie die laute Meute überhaupt übertönen wollen.
Achtung: Nebenwirkungen beachten!
Wer dieses wilde Pferd reiten will, wird sich bald damit konfrontiert sehen, immer lauter schreien zu müssen, um die vermeintliche Zielgruppe noch zu erreichen. Neben dem finanziellen und zeitlichen Aufwand besteht auch die Gefahr, schnell frustriert und ausgebrannt zu sein. Der Grund liegt auf der Hand: Das eigentliche und ehrliche Ziel, nämlich frei seiner Berufung nachgehen zu können, wird in diesem Zusammenhang völlig obsolet. An seine Stelle tritt schlicht und ergreifend die pure Profitgier. Wer so anfängt, weiß wahrscheinlich schon nach kurzer Zeit nicht mehr, warum und wofür er morgens aufsteht.
Da die eigentlichen Inhalte und Botschaften in diesem System eigentlich keine Rolle spielen, wird man plötzlich auch sehr leicht austauschbar. Jemand, der vielleicht noch „lauter“ schreit, wird einem früher oder später den Rang ablaufen. Statt auf Vertrauen und langfristig zufriedene Kunden zu setzen, die bei Bedarf gerne wiederkommen, steht bei diesen Konzepten die schnelle und effektive Befriedigung eines Kundenbedürfnisses im Vordergrund. Natürlich nicht, ohne sich die Zufriedenheit des Kunden durch eine entsprechende Sternebewertung schriftlich bestätigen zu lassen.
Ein alternativer Ansatz vom Naturcoach
Kritisieren kann ja jeder, denke ich mir, aber wie kann man diese Coaching- oder Beratungsgeschichte für Berufseinsteiger besser machen? Ganz einfach: Indem man den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellt und dabei das Fachliche nie aus den Augen verliert. Viele Coachings im Business-Bereich scheitern oft daran, dass die Coachees aufgrund persönlicher Aspekte (Ängste, Zweifel, mentale Blockaden) die vorgeschlagenen Konzepte in der Form gar nicht umsetzen können. Um zu gewährleisten, dass alles reibungslos funktioniert, ist es äußerst wichtig, die Geschäftsprozesse so zu gestalten, dass sie auch für diejenigen geeignet sind, die sie später ausführen sollen. Oder anders ausgedrückt: Das Geschäft passt sich dem Menschen an und nicht umgekehrt!
Nur so entstehen mutige, innovative und vor allem authentische Geschäftsmodelle mit nachhaltigem Potenzial für Spaß an der Arbeit. Und genau in dieser Authentizität liegt meiner Meinung nach auch der Schlüssel zum späteren Geschäftserfolg. Wer authentisch ist und entsprechend arbeitet, wird auch die entsprechende Kundschaft anziehen und nicht die nörgelnden Schnellkäufer, die eigentlich nur wegen des Preises zugeschlagen haben. Dadurch entstehen nicht nur weniger Frustrationen und Reibungsverluste, sondern das Unternehmen als solches kann leichter in eine „gesunde“ Richtung wachsen. Eine Richtung, die dann fast automatisch auch der ursprünglichen Vision des Gründers folgt und nicht nur der reinen Gewinnmaximierung. Alles in allem also ein schlüssiges Coaching-, Beratungs- oder Mentoring-Modell, wie ich finde.