Kein Tropfen ist zu klein
Auch in winzigen Schritten zufrieden ans Ziel kommen
Es gibt Abschnitte im Leben, da scheint einfach nichts voranzugehen. Was auch immer ich tue, ich komme irgendwie nicht weiter. Dabei gebe ich mir so viel Mühe und kämpfe täglich gegen den inneren Schweinehund und mangelnde Disziplin an. Es scheint fast so, als würde jeder meiner Versuche, mich in großen Schritten dem selbst gesteckten Ziel zu nähern, im Handumdrehen zusätzlich auch noch durch äußere Umstände vereitelt. Statt mich in Ruhe der Arbeit widmen zu können, meldet sich plötzlich ein Freund, der Hilfe benötigt. Dazu ist eines unserer Haustiere krank und braucht mehr denn je meine Aufmerksamkeit. Zudem verlangt die oft sehr spontane Entwicklung der staatlichen Corona-Regeln nach schneller Planänderung und Handlungsbereitschaft, um das eigene geschäftliche Bestehen nicht zu gefährden. Und nun, als ob das alles nicht schon genug wäre, bedroht obendrein das Schreckgespenst eines Krieges das tägliche Wirken und führt mir wieder einmal sehr deutlich vor Augen, dass auch die ausgefeiltesten Zukunftspläne sich von einem Moment auf den anderen jederzeit in Luft auflösen könnten. Wie soll man da nur ruhig bleiben?
Mit der Karotte vor der Nase
Da kann sich durchaus mal ein wenig Frust und Schwermut breitmachen. Das war schon mal einfacher! Wofür habe ich denn all die Jahre hart gearbeitet, wenn das Ziel jetzt zwar zum greifen nahe scheint, sich aber dennoch gerade durch die äußeren Umstände irgendwie nicht erreichen lässt? Das Bild von Paulchen aus der Zeichentrickserie „der rosarote Panther“ ploppt vor meinem geistigen Auge auf. Ich sehe ihn deutlich, wie er auf einem Pferd sitzend versucht, den lahmen Wallach mit einer Karotte vor dessen Nase an einer Angel baumelnd zum Galoppieren zu animieren. Das Ross rennt darauf zu, kann jedoch die auf- und abschwingende Rübe nicht erreichen, denn der Reiter nebst Angelrute im Rücken bewegen sich ja auf jedem Meter mit. Genau so fühle ich mich in diesem Moment. Wie das Pferd, das stetig weiter trabt, obwohl es instinktiv spürt, dass die Möhre vor der Nase auf diese Weise nicht zu erreichen sein wird, egal wie groß auch immer die beherzten Schritte sein mögen.
Ein guter Zeitpunkt, um innezuhalten und zu prüfen, was oder wer einem da buchstäblich im Genick sitzt, finde ich. Und, ob es in diesen Zusammenhang vielleicht Sinn machen könnte, etwas kleinere Schritte zu unternehmen, die mir gleichzeitig mehr Zeit für schnellere Richtungswechsel geben würden. Also, nichts wie raus aus dem Büro und rein in den Wald. Mit einem bisschen Abstand vom eigenen Tun und jedem Meter, den ich zurücklege, kann ich dort auch die alltäglichen Sorgen und Nöte ein Stück weit hinter mir lassen und mich leichter darauf konzentrieren, was ich denn eigentlich erreichen wollte. Was war mein ursprüngliches Ziel und wie weit habe ich mich durch unerwünschte „Reiter“ mit dem Leckerli vor meiner Nase baumelnd davon abbringen lassen?
von Dirk Stegner
„[...] Die Erkenntnisübung wirkt dabei so, als würden Sie, vor einem Hindernis stehend, ein paar Schritte zurücktreten, um dadurch eine freiere Sicht auf alternative Pfade drumherum zu erlangen. Und genau aus diesem Grunde ist der veränderte Blickwinkel speziell dann so wichtig, wenn wir durch Druck und Panik den sprichwörtlichen Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. [...]“
Auszug aus: Dirk Stegner „Natur-Coaching“
Selbsterkenntnis als Wegweiser
Als ich so durch den Wald wandere, gelange ich an einen alten Forstweg, der mir immer eine willkommene Abkürzung zu einem meiner Lieblingsplätze bietet. Aber heute habe ich Pech. Die schweren Baumerntemaschinen und Holzlaster haben die Route zusammen mit den Regenfällen der letzten Tage in eine unpassierbare Schlick- und Matschgrube verwandelt. Die Abkürzung fällt heute also aus und ich muss doch den längeren Weg neben dem Bachlauf in Kauf nehmen. Als ich so dort am kleinen Rinnsal entlang marschiere, fallen mir ein paar Steine auf, die das Wasser auf ganz besondere Weise glattgeschliffen hat. Sie sind angenehm glatt, wie ein Handschmeichler, jedoch haben sie auch kleine, aber feine Mulden in ihrer Mitte. Es scheint so, als hätten sie viele Jahre unter einem stetig fließenden Wasserstrahl gelegen, der diese interessante Form aus ihnen herausgespülte. „Sieh mal an! Kein Tropfen ist also zu klein, als dass er nicht im Laufe der Zeit ein beachtliches Loch in den Stein waschen könnte.“, erkenne ich respektvoll die natürlichen Kräfte an.
Genau das ist es, das ist die Lösung! Es ist gar nicht notwendig, irgendetwas im Leben erzwingen zu müssen. Es reicht auch aus, sich völlig entspannt und in kleinen Schritten, dem Ziel zu nähern. Wichtig ist nur, die Beharrlichkeit und die Regelmäßigkeit, ohne dabei in irgendeiner Weise zu verkrampfen. Wenn ich mich meinem Ziel täglich vielleicht auch nur ein kleines Stückchen nähere, dann wirkt dies genauso wie jeder einzelne Tropfen, der diesen Steinen ihre Form verlieh. Kein einziger davon war vermutlich druckvoll und hart. Ganz im Gegenteil. Das Wasser war weich und sanft. Dennoch hatte es über all die Jahrzehnte genug Kraft, um diese selbst für einen geübten Handwerker nicht leichte Arbeit verrichten zu können.
Was heißt das nun für mich?
Übertragen auf mein Leben bedeutet dies, dass aufkommender Frust und Unmut über die scheinbar schwierige Lage gar nicht sein müssen. Sie sind völlig unnötig, denn mein Ziel erreiche ich, wie das fließende und manchmal formende Wasser auch dann, wenn ich im wahrsten Sinne des Wortes, den Dingen einfach mal ihren Lauf lasse und mich selbst zurücknehme. Statt stur den Blick auf die Widrigkeiten zu lenken und dann frustriert darüber zu sein, dass ich meine Tagesetappe wieder mal nicht gemeistert habe, sollte ich mich lieber auch über kleinste, fast unsichtbare Fortschritte freuen. Selbst wenn der Tag einfach nicht mehr hergab, könnte ich darüber glücklich sein, dass es zumindest ein winziges bisschen vorwärtsging, statt mich über das vermeintlich zu schlechte Ergebnis zu ärgern. Der kleine Tropfen macht mir bewusst, welche Kraft selbst in ihm stecken kann, auch wenn er alleine natürlich keinen Stein verformen kann. Die Regelmäßigkeit machts, nicht die Größe der Schritte!
Der lebenswichtige Perspektivenwechsel
Speziell in der aktuellen Situation ist es wichtig, genau dies für sich erkennen zu können, denn diese Einsicht unterscheidet einen gelungenen Tag von einem in Frust, Wut oder Angst. Sie entscheidet darüber, ob ich mich trotz all der widrigen Umstände dankbar und kraftvoll oder lediglich frustriert und schwach fühle. Ein Unterschied, der auf lange Sicht, ähnlich wie der stete Tropfen, eines Tages auch über die eigene gesundheitliche Verfassung entscheiden kann. Und zwar im Positiven, wie im Negativen. Es lohnt sich also, von Zeit zu Zeit den eigenen Blickwinkel selbstkritisch zu prüfen: Blicke ich tatsächlich noch in Richtung zielführender Möglichkeiten oder beraubt mich die pessimistische Aussicht auf eine Vielzahl von Problemen und Sorgen jeden Tag ein kleines bisschen mehr meiner Lebenskraft und -freude? Und warum bin ich eigentlich so schwarzseherisch?
Selbst auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, aber der eben angesprochene Perspektivenwechsel, hat überhaupt nichts mit einer beschönigenden Sicht durch die sprichwörtliche „rosarote Brille“ zu tun. Es geht hier vielmehr um die Justierung der inneren Einstellung. Wie ich Dinge wahrnehme bestimmt letzten Endes auch die Art und Weise, wie ich lebe. Ob das Glas nun halb voll oder leer ist, macht rein messtechnisch sicherlich keinen Unterschied. Es lebt sich nur viel leichter in der Gewissheit, eines halbvollen Glases. Statt mir Sorgen darüber zu machen, dass mir „nur noch“ die Hälfte des Inhalts zur Verfügung steht, kann der Ausblick darauf, dass man ja „erst“ fünfzig Prozent davon getrunken hat auch ein sehr gutes Gefühl geben. Es ist ja schließlich noch einiges übrig. Die entsprechende Sichtweise auf ein und dieselbe Menge kann je nach Blickwinkel emotional eben einen gravierenden Unterschied bedeuten. Es ist nicht der wissenschaftlich exakte Füllstand des Glases, sondern die aus dessen Wahrnehmung resultierende Gefühlskulisse, die Letztenendes die Zustände im eigenen Körper bestimmt. Fühlt sich das Szenario gut oder schlecht an? Genau diese Entscheidung trifft der Mensch stets für sich selbst, und zwar immer und in jeder Sekunde seines Lebens.
Aus diesem Grunde lohnt vielleicht auch ein intensiver Blick darauf, wer da wie Paulchen Panther auf mir sitzt und mir die Karotte vor die Nase hält. Sind es tatsächlich die äußeren Umstände oder bin ich es am Ende des Tages vielleicht sogar selbst? Mit etwas Abstand und der nötigen Ruhe betrachtet, lässt sich dieses Rätsel sicherlich einfacher lösen und nimmt damit in Folge auch den Druck und die Unzufriedenheit aus meinem eigenen System. Also, worauf noch warten?